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Lothar Geisler: Ein Mann mit Prinzipien
Lothar Geisler ist Jahrgang 1936, und der Zweite Weltkrieg macht ihn zu einem fußballerischen Spätstarter: "So richtig zum Fußball bin ich erst 1948, also mit 12 Jahren, gekommen, mein erster Verein war der VfL Kemminghausen. Die hatten damals eine A-Jugend und dazu noch eine zweite Jugendmannschaft, für die sie einen Torwart suchten. Also wurde ich erst mal Torwart - und das durchaus mit Erfolg. Ich erinnere mich noch ganz gut an ein Spiel in Lünen, da kriegten wir fünf Elfmeter gegen uns, und drei davon habe ich gehalten. Da war ich natürlich der Mann im Tor, obwohl ich das eigentlich gar nicht so richtig wollte."
Einen Spielbetrieb, wie man ihn auch im Jugendbereich heute kennt, gab es im Nachkriegs-Dortmund natürlich nicht. Improvisation war für die jungen Kicker das Gebot der Stunde: "Wir machten unsere Meisterschaftsspiele immer vor den Spielen der A-Jugend, und da gab es dann einen Trikottausch, den man sich heute kaum noch vorstellen kann. Wir hatten nur einen Satz Trikots, den übernahm dann die erste Mannschaft direkt nach dem Spiel von uns. Wir spielten auf dem Sportplatz von Viktoria Derne, weil Kemminghausen keinen eigenen Platz hatte. Umgezogen haben wir uns allerdings in Kemminghausen, und die zwei Kilometer ´runter zum Platz mussten wir laufen. Doch für uns war die Hauptsache, dass wir überhaupt spielen konnten, alles andere war nebensächlich. So wie wir uns die Trikots geteilt haben, ging das übrigens auch mit den Spielerpässen. Der Verein hatte wahrscheinlich nicht genug Geld, um alle Spieler ordentlich anzumelden, und so spielte ich immer mit fremden Spielerpässen. Bei einer Kontrolle musste man halt nur wissen, wer man an diesem Tag gerade war."
Nach zwei Jahren erfolgreicher Karriere als Torwart im mehr oder weniger geordneten Spielbetrieb des VfL Kemminghausen wechselt Lothar Geisler in die zweite Mannschaft des TuS Eving-Lindenhorst - der berühmte Dortmunder Vorortverein, bei dem später noch die Karrieren von Michael Zorc, Stefan Klos und Lars Ricken beginnen sollten. Hier startet Geislers zweite fußballerische Laufbahn: nicht länger zwischen den Pfosten, aber auch nicht so furchtbar weit davon entfernt: "Ich spielte zunächst wieder in der zweiten Mannschaft, jetzt allerdings als Libero. Irgendwann fehlte dann mal in der A-Jugend ein Spieler, und ich durfte ausgerechnet gegen Borussia Dortmund antreten. Bis dahin hatten wir eigentlich immer zweistellig verloren, aber in diesem Spiel haben wir tatsächlich 1:0 gewonnen. Da war die Freude natürlich riesengroß, es war ein schöner Frühlingsabend, und die ganze Mannschaft zog noch nach 22 Uhr Lieder singend durch Eving - mit der Folge, dass wir das bekamen, was man früher einen "Sängerbrief" nannte: Ein Polizist wollte uns wegen Ruhestörung 40 Mark abnehmen. Wir kamen allerdings beim besten Willen insgesamt nur auf vier oder fünf Mark. Na ja, es gab dann noch ein paar mahnende Worte, unser Geld war weg, aber Spaß gemacht hat´s trotzdem."
Es folgen Spiele in der Jungliga, einer Art Vorstufe für die Senioren, der mehrfache Gewinn des "Fredenbaum-Pokals" und Lehrgänge in der Sportschule Kaiserau. Verbandstrainer ist zu diesem Zeitpunkt Herbert Wittmeier, und dem bleibt Lothar Geislers Talent nicht verborgen: "Ich spielte inzwischen für die erste Mannschaft von TuS Eving-Lindenhorst. Eines Tages komme ich von der Arbeit nach Hause und sehe bei uns vorm Haus einen VW mit Bochumer Kennzeichen. Der fiel schon deshalb auf, weil zu diesem Zeitpunkt in unserer Straße niemand ein Auto hatte. Als ich in die Wohnung komme, sitzt Herbert Wittmeier am Wohnzimmertisch."
Im Gepäck hat der inzwischen in Bochum tätige Trainer ein verlockendes Angebot. Er sucht junge Spieler für einen Neuaufbau des VfL Bochum und verspricht Lothar Geisler, ihm in Bochum auch einen Job als Dreher zu besorgen. Obwohl Lothar Geisler der Schritt von der Landesliga in die Oberliga West ziemlich verwegen erscheint, unterschreibt er eine Woche später beim VfL.
Zwei Jahre lang spielt er in Bochum, und das hätte sicher noch eine ganze Weile so weiter gehen können. Doch es gibt Probleme, denn das Bochumer Stahlwerk, in dem man ihn beschäftigt, arbeitet im Dreischicht-Betrieb - für den Fußballer auf Dauer eine unmögliche Plackerei: "Wenn ich Frühschicht hatte, gab es keine Probleme, da konnte ich ganz normal mit den anderen Spielern trainieren. Bei einer Mittagsschicht habe ich morgens alleine trainiert und bin dann zur Arbeit gegangen. Wenn ich nachts arbeiten musste, konnte ich wieder mit der Mannschaft trainieren, musste allerdings danach noch die ganze Nacht an die Maschine. Nach einem halben Jahr war klar, dass das nicht so weitergehen konnte."
Der Versuch des Vereins, einen Betrieb zu finden, in dem Geisler ständig morgens hätte arbeiten können, scheitert - und in der alten Heimat lockt längst Borussia Dortmund mit einem Angebot. Beim VfL Bochum hat man für die Abwanderungswünsche allerdings überhaupt kein Verständnis, und es gelingt dem Verantwortlichen tatsächlich, Geisler für ein Jahr sperren zu lassen: "Ich hatte den Vertrag in Dortmund bereits unterschrieben, und es kam in Würzburg zur Verhandlung vor dem Kontrollausschuss des DFB." Der Deutsche Fußballbund bietet den Kontrahenten einen Kompromiss an: Geisler soll ein weiteres Jahr beim VfL spielen, um dann ohne Sperre nach Dortmund wechseln zu können. Doch er hat innerlich längst mit Bochum abgeschlossen und nimmt die Sperre in Kauf.
Nach einem Jahr Sperre und guten Leistungen in Borussias zweiter Mannschaft steht Lothar Geisler 1960/61 zum ersten Mal in der ersten Oberligamannschaft des BVB, einer Truppe, die sich nach den großen Erfolgen von 1956 und 57 im Umbruch und Neuaufbau befindet. Es kommen für den BVB erfolgreiche Jahre mit dem Gewinn der Deutschen Meisterschaft 1963, unvergesslichen Auftritten im Pokal der Landesmeister gegen Lissabon und Prag und schließlich dem Gewinn des Pokals der Pokalsieger.
Kurz vor Einführung der Bundesliga droht Lothar Geisler auch beim BVB noch einmal der Konflikt zwischen Sport und Berufstätigkeit: "Wir saßen im Bus und waren auf dem Weg zu einem Auswärtsspiel, da nahm sich unser damaliger Trainer Max Merkel das Mikrofon und teilte uns mit, dass er in Zukunft ausschließlich mit Profis zusammenarbeiten wolle. Halbtagskräfte seien für ihn nicht mehr interessant. Aber bis auf ganz wenige Ausnahmen hatten wir alle nebenher einen Beruf, und entsprechend geschockt waren wir natürlich. Und Merkel setzte noch einen drauf: Wer da nicht mitmacht, auf den verzichte ich eben."
Dass Merkel ein ausgesprochener Schleifer war, hatte ihn bei den Spielern des BVB nicht eben beliebt gemacht, und so erlebte vermutlich nicht nur Geisler den Trainerwechsel 1961/62 sowie die Verpflichtung von Hermann Eppenhoff geradezu als Geschenk des Himmels, zumal damit auch das leidige "Jobthema" vom Tisch war.
Nach dem Gewinn des Europapokals der Pokalsieger beendet Lothar Geisler 1967 seine Kariere beim BVB, obwohl er mit 31 Jahren als Abwehrspieler noch nicht unbedingt zum alten Fußball-Eisen gehört. "Ich habe aufgehört, weil Borussia nach Willi Multhaup einen Trainer verpflichtet hatte, den ich aus Kaiserau kannte, nämlich Heinz Murach." Dieser, zuvor beim Fußballverband Niederrhein
beschäftigt, galt vielen Kennern schlicht als "Turnlehrer", und auch Lothar Geisler war von den Methoden des neuen Chefs nicht gerade angetan: "Als ich den B-Schein machte, haben wir ihn beim Training beobachtet und konnten damals nicht glauben, welche unsinnigen Übungen er die Spieler machen ließ. Und der sollte jetzt unser Trainer werden? Da habe ich lieber aufgehört, zumal der Verein nicht bereit war, in die Zukunft zu planen und das Niveau der Mannschaft durch Neueinkäufe zu halten. Ich hatte auch einfach keine Lust mehr, auf eine Chance bei dem Neuen zu warten. Hans Tilkowski ist übrigens kurze Zeit später aus dem gleichen Grund weg gegangen."
Nach dem Ende der Karriere als Spieler bleibt Lothar Geisler dem Fußball als Trainer mit B-Lizenz erhalten, und zwar zunächst beim TuS Eving-Lindenhorst. 20 Jahre lang trainiert er verschiedene Amateurmannschaften. Gleichzeitig arbeitet er sich - langsam, aber sicher - bei den Dortmunder Stadtwerken hoch. Den A-Schein erwirbt er nicht, einmal mehr steht der "bürgerliche" Beruf an erster Stelle.
Inzwischen ist Lothar Geisler Ehrenmitglied des BVB und zufriedener Pensionär der Dortmunder Stadtwerke. Mit Frau Helma lebt er noch immer in Dortmund. Den Job als Trainer hat er vor gut 20 Jahren aufgegeben, dafür hält er sich mit ausgedehnten Radtouren fit. Neben der Familie, zu der auch die Enkeltöchter Lara und Nina gehören, gilt seine Leidenschaft dem Angeln. Was am Löschteich mit einfachsten Mitteln begann, ist heute zu einem echten Sport geworden: Zander, Hecht und Forelle sind für Lothar Geisler inzwischen genauso spannend wie Punkte, Tore und Meisterschaft.