Story
Nico Schlotterbeck: Wie alles begann
Wer erinnert sich nicht daran, wie Nico Schlotterbeck den Ball gegen Union Berlin aus über 20 Metern unter die Latte gehämmert hat? Wie er in so manchem Champions-League-Thriller zum Turm in der Schlacht wurde? Der große Blonde mit dem linken Fuß ist 24 Jahre alt und kann auf weit über 100 Bundesligaspiele sowie eine jeweils zweistellige Anzahl an Länderspielen und Champions-League-Einsätzen blicken. Aber wie hat das alles angefangen? Wie ist aus dem kleinen Buben aus dem schwäbischen Remstal der heutige Fußballstar geworden?
Auf der Suche nach Nicos Wurzeln sind wir in Weinstadt gelandet, einem Zusammenschluss mehrerer kleiner Dörfer etwa 15 Kilometer östlich von Stuttgart. In einem dieser Dörfer, in Beutelsbach, wohnen die Schlotterbecks. Im Land der Spätzle und Maultaschen geht es geordnet und beschaulich zu. Schwäbische Idylle inmitten von Fachwerkhäusern und Weinbergen. Im Wohnzimmer zeugen die überall aufgehängten Fotos ihrer beiden Jungs – vom Vorschulalter bis zu aktuellen Profibildern – vom Stolz der Eltern auf ihre Sprösslinge.
Nico Schlotterbeck wird kurz vor der Jahrtausendwende in Waiblingen geboren. Als zweiter Sohn von Marc und Susanne, als Bruder des zweieinhalb Jahre älteren Keven. Dass er Nico heißt, hat er seiner Mutter zu verdanken. Wäre es nach dem Herrn Papa gegangen, würde er Cedric heißen. „Der Lieblingsfilm von meinem Vater ist „Der kleine Lord“, klärt uns Nico auf. „Den Film schaut er jedes Jahr an Weihnachten und heult jedes Mal, weil er den Film so schön findet. Da spielt eben der kleine Cedric die Hauptrolle, und deshalb wollte er mich unbedingt Cedric nennen. Gottseidank hat sich meine Mutter durchgesetzt.“
Marc war früher selbst ein hoffnungsvoller Amateurkicker, bevor er seine Karriere schon im Alter von 19 Jahren beenden musste. Eine rätselhafte Viruserkrankung, die seine Gelenke angegriffen hat und ihn heute noch beeinträchtigt, machte frühzeitig alle Hoffnungen auf mehr zunichte. Dafür aber darf er seinen großen Traum heute mit seinen beiden Söhnen leben. Sowohl Nico als auch Keven haben sich in der Bundesliga etabliert.
Ganz früh schon wird erkennbar, dass Nico und Keven das Talent vom Vater und vom Onkel haben. Marcs Bruder Niels war selbst ein erfolgreicher Fußballprofi und hat 30 Tore in über 200 Spielen in der ersten und zweiten Bundesliga für die Stuttgarter Kickers, den SC Freiburg, den MSV Duisburg, Hansa Rostock, 1860 München, Hannover 96 und Waldhof Mannheim erzielt. Dass heute beide mit ihrem starken linken Fuß aufzufallen wissen, liegt an frühkindlicher Prägung. „Als sie noch ganz klein waren und sie gerade mal einen Luftballon kicken konnte, habe ich immer darauf geachtet, den Ballon auf ihren linken Fuß zu legen“, erzählt Papa Marc, der selbst Linksfuß war und überzeugt ist, dass man als „Linker“ bessere Aufstiegschancen hat.
Keven und Nico könnten charakterlich unterschiedlicher kaum sein. Der ältere Keven ist eher ruhig, der jüngere Nico ein Irrwisch. „Nico war immer und überall. Wenn einer von beiden vom Stuhl gefallen ist, dann war es Nico und nicht Keven“, erinnert sich die Mutter mit einem Lachen.
Für den umtriebigen kleinen Nico gibt es neben Bruder Keven schon sehr früh eine weitere ganz enge Bezugsperson: Antonios „Toni“ Papadopoulos aus der unmittelbaren Nachbarschaft. „Die beiden waren Tag und Nacht zusammen, eigentlich wie engste Brüder“, erzählt Vater Marc. Direkt nach der Schule sind die beiden jeden Tag zum Bolzplatz unweit ihrer Wohnungen und haben gekickt. Mit fünf Jahren werden sie im örtlichen Fußballverein SC Weinstadt angemeldet. Nicos erster Trainer, Andreas Berkowitsch, erinnert sich noch gut an den ehrgeizigen Steppke: „Man musste ihn zu nehmen wissen. Er war nicht so einfach wie die anderen Jungen. Er hat schon früh vieles hinterfragt.“ Durch ihre fußballerische Klasse stechen Toni und Nico schnell heraus. „Sie waren die Leader und Sprücheklopfer. Aber wenn verloren wurde, sind auch schon mal Tränen geflossen“, erinnert sich Berkowitsch. Ehrgeiz ist eine der hervorstechenden Eigenschaften von Nico. „Er tut alles, um zu gewinnen. Selbst beim Kartenspielen. Er kann definitiv nicht verlieren“, berichtet Vater Marc. Vielleicht ist es das Holz, aus dem erfolgreiche Profi geschnitzt sein müssen.
Frühzeitig wird klar, dass die Fußballwelt in Weinstadt für Nicos und Tonis große Ambitionen zu klein ist. Die Stuttgarter Kickers werden auf das Talent der beiden aufmerksam. Bei den Kickers trifft Nico auf Trainer Jörg Schuller. Im Gegensatz zu Toni aber erst nach dem zweiten Sichtungstraining. Beim ersten Mal hatte Nico nur wenig Lust gezeigt, sich an eine neue Umgebung zu gewöhnen. Nachdem man ihm aber gesagt hatte, dass es so nicht reichen würde, gibt er beim zweiten Mal richtig Gas und kann begeistern. „Mit seiner Technik, seiner Dynamik und seinem starken linken Fuß hat er uns dann überzeugt, und wir haben gemerkt, dass wir da einen richtig guten Spieler bekommen“, so Schuller. „Das war die prägendste Zeit in meiner Jugend“, sagt Nico im Rückblick. Schuller schwärmt heute noch von dieser Zeit. „Nico hat sich in den drei Jahren bei uns enorm weiterentwickelt, war extrem wissbegierig und wollte immer gefordert werden.“ Und er lobt den großen Trainingsfleiß: „Nico war nicht totzukriegen.“
Von Beutelsbach zum Trainingsgelände der Kickers in Degerloch sind es 25 Kilometer. Marc und Susanne aber ist selbst dieser Aufwand nicht zu groß. Sie kutschieren ihre Jungs jahraus jahrein mehrfach in der Woche zum Training und wieder zurück. Marc: „Wir haben mal ausgerechnet, dass wir etwa eine halbe Million Kilometer für die Jungs gefahren sind.“ Dafür gab es kein Taschengeld erklärt Susanne, das steckte im Spritgeld.
In dieser Zeit spielen Nico und Toni nicht nur bei internationalen Jugendturnieren gegen große Teams wie Ajax Amsterdam, Real Madrid oder Juventus Turin, sondern auch bereits das erste Mal im SIGNAL IDUNA PARK. Eine große Warenhauskette veranstaltet einen nationalen Kleinfeld-Junior-Cup für Straßenteams. Nico und Toni rufen mit einigen Freunden den „FC Bananenflitzer“ ins Leben und schaffen nach mehreren regionalen Qualifikationsturnieren den Sprung ins Finale, das im November 2012 in der Halbzeitpause des Bundesligaspiels gegen den VfB Stuttgart im SIGNAL IDUNA PARK ausgetragen wird. Das Endspiel geht für die Jungs aus Weinstadt zwar verloren, aber dieses Erlebnis wird Nico nie vergessen. „Das war unfassbar. Vor 80.000 zu spielen, da ging uns schon ein bisschen der Kackstift. Das wirkt auf viele Profiteams heute wahrscheinlich genauso erdrückend wie für uns damals als Zwölfjährige. Aber dass ich mit zwölf Jahren schon hier gespielt habe und jetzt alle zwei Wochen – das ist eine Geschichte, die eben nur der Fußball schreibt.“
In die Zeit bei den Stuttgarter Kickers fällt auch eine Anekdote, die Nico bis heute verfolgt. Im Internet ist ein Video zu finden, wie er als 14-Jähriger davon erzählt, dass er eines Tages Weltfußballer werden will. „Das war eigentlich mehr ein Gag. Meine Freunde haben nicht geglaubt, dass ich das mache. Aber ich hab‘s gemacht, und das verfolgt mich bis heute.“ Damals war Fabio Cannavaro sein großes Idol. Der Italiener war der erste (und bis heute einzige) Verteidiger, der zum Weltfußballer gewählt wurde, und diesem Vorbild nachzueifern, erschien ihm damals wohl nur logisch.
Dann kam es zum Bruch mit den Kickers. Der Jugendtrainer des nächsten Jahrgangs stand nicht auf Nico. Als Vater Marc seinem Sohn mitteilt, dass er aussortiert werden soll, fließen Tränen. Aus dem ersten Impuls, ganz aufzuhören, erwächst aus seinem unbändigen Ehrgeiz eine Jetzt-erst-recht-Gesinnung. Bruder Keven erinnert sich: „Nico hat dann mit 15 Jahren begonnen, seine Ernährung von Weizen auf Dinkel umzustellen. Er hat immer gesagt, er will Profifußballer werden. Einen Plan B gab es nicht. Deshalb hat er alles getan, um dieses Ziel zu erreichen.“ Nicos Devise: Er will sich nicht später mal vorwerfen lassen müssen, nicht alles für das Erreichen seines Traumes getan zu haben. Als nützlich erweisen sich in dieser Zeit, in der er für ein Jahr beim VfR Aalen in einer unterklassigen Juniorenstaffel spielt, auch die Kontakte seines Onkels Niels, der nach seiner Profikarriere eine Fußballschule gegründet hat, die er bis heute noch erfolgreich betreibt. Niels erreicht, dass Nico zu einem Probetraining beim Karlsruher SC eingeladen wird. Der damalige U19-Trainer Lukas Kwasniok (heute Cheftrainer beim Zweitligisten SC Paderborn) erkennt Nicos Fähigkeiten sofort. Schon mit 16 Jahren wird er in den A-Jugend-Kader aufgenommen. Wenig später folgt die erste Berufung in die deutsche U18-Nationalmannschaft. Karlsruhe war die wichtigste und gleichzeitig stressigste Zeit in Nicos Entwicklung. „Er ist morgens in aller Frühe aus dem Haus und in die Schule nach Stuttgart. Mittags hat ihn Susanne von der Schule zum Hauptbahnhof gebracht und ihm Essen mitgegeben. Dann hat er im Zug nach Karlsruhe gegessen und gelernt, hat beim KSC trainiert, ist abends wieder mit dem Zug zurück und war erst um halb zehn wieder zuhause“ schildert Marc den täglichen Ablauf. Viel Zeit für Spaß bleibt da nicht mehr.
2017 wechselt Nico zum SC Freiburg, wo sein Bruder Keven bereits für die U23 spielt. Mit der U19 gewinnt Nico den DFB-Pokal und feiert in der Folgesaison nach einigen Regionalliga-Einsätzen am 9. März 2019 gegen Hertha BSC sein Bundesliga-Debüt. Auch für Mutter Susanne ein unvergesslicher Tag. „Es war mein Geburtstag. Ich war nach Kevens Regionalligaspiel in Balingen im Auto, als mich Marc aus Freiburg anrief und erzählte, dass Nico eingewechselt wird. Ich habe dann Radio gehört, und plötzlich schreit der Reporter: Tor für Freiburg, 2:1, Nico Schlotterbeck! Ich musste anhalten und habe ein paar Tränen verdrückt. Erst später kam heraus, dass es ein Eigentor von Ibisevic war, der aber immerhin im Luftkampf von Nico hart bedrängt wurde.“
Der Rest ist Geschichte. Nach 65 Bundesligaspielen für Freiburg und Union Berlin schließt sich mit Nicos Wechsel zum BVB auch ein Kreis. In Dortmund trifft er wieder auf seinen besten Freund „Toni“ Papadopoulos, der gemeinsam mit ihm in der Champions League Seite an Seite gegen Sevilla und Manchester City kämpfen darf. Bleibt noch eine Zukunftsvision: „Es gibt eine Sache, die noch besser ist, als mit dem besten Freund zu spielen – das ist mit dem eigenen Bruder zu spielen. Das haben wir schon erlebt, und das werden wir irgendwann in Zukunft ganz sicher noch einmal erleben.“
Das würde auch für Marc und Susanne vieles erleichtern. Keven spielt mittlerweile beim VfL Bochum, und die Eltern wollen bei allen Spielen ihrer Söhne live dabei sein. Bei zeitgleichen Ansetzungen müssen sie sich dementsprechend aufteilen. „Sie lieben uns und Fußball über alles“, weiß Nico, „und ich bin immer ganz froh, wenn ich beim Einlaufen meine Eltern auf der Tribüne sehe und ihnen zuwinken kann. Ich weiß dann, es ist jemand für mich da, und das gibt mir zusätzliche Stärke.“ Vater Marc blickt stolz und glücklich auf die gemeinsame Reise zurück: „Brüder in der Bundesliga sind sehr selten. Dass es unsere beiden Jungs auf unterschiedlichem Wege geschafft haben, ist für unsere Familie ein Riesenerfolg.“
Dass die große Fußball-Leidenschaft seiner Eltern und deren große Opferbereitschaft während seiner Jugendzeit großen Anteil daran haben, dass er heute ein umjubelter Bundesligaprofi ist, weiß Nico genau. „Meine Eltern sind die liebsten Menschen auf der Welt und haben mich immer unterstützt. Heute weiß ich, dass das nicht selbstverständlich ist. Ich hoffe, dass ich mir daran ein Beispiel nehmen und meine Kinder auch so erziehen werde.“ Mit der Geburt seines ersten Kindes Ende vergangenen Jahres hat sich Nico bereits auf diese Mission begeben und kann jetzt seine Erfahrungen an den eigenen Nachwuchs weitergeben. „Im Fußball brauchst du das Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Dazu ein bisschen Qualität – dann kannst du es schaffen.“
Vielleicht ja auch eines Tages zum Weltfußballer.