Interview
Nuri Sahins Jahresrückblick: „Möchte keine Sekunde missen“
Mehr Verantwortung, mehr Rampenlicht, mehr Druck – die Anforderungen an Nuri Sahin sind mit seiner Beförderung vom Assistenz- zum Cheftrainer im Sommer spürbar gestiegen. Seiner Freude an der Arbeit tut das keinen Abbruch. Ein Jahr nach seiner Rückkehr vom türkischen Erstligisten Antalyaspor in seine sportliche Heimat zieht der 36-Jährige im Interview mit BVB-TV Bilanz: „2024 war schön, emotional – manchmal auch unangenehm. Trotzdem möchte ich keine Sekunde missen.“
Sein Blick zurück auf die vergangenen zwölf Monate in für ihn vertrauter Umgebung schärft die Sinne für 2025: „Ich will, dass wir zu Gewinnern werden. Dass wir es endlich schaffen, dass man nicht mehr so über uns redet, dass wir nicht konstant sind. Das werden wir schaffen – dafür gehe ich jeden Tag voran.“
Sahins Zuversicht soll sich auf die Mannschaft übertragen. Wie schon bei seinem Amtsantritt als Chefcoach wirbt der Borusse auch zum Jahreswechsel um Geduld. Dennoch macht er aus seiner Unzufriedenheit über den Tabellenplatz jenseits der Champions-League-Ränge keinen Hehl: „Wir sind in der Bundesliga definitiv noch nicht da, wo wir uns selbst sehen, wo wir sein müssten. Dass es kritisch beäugt wird – auch von mir – ist völlig normal. Wir hatten zu viele Auf und Abs.“
Zu den Höhepunkten des vergangenen Jahres zählen diverse Auftritte in der europäischen Königsklasse. Magische Fußballnächte wie beim 4:2 im Viertelfinale gegen Atletico Madrid oder im Halbfinale bei Paris Saint-Germain (1:0) sorgen bei Sahin noch heute für Hochgefühle. An das unglücklich verlorene Finale am 1. Juni gegen Real Madrid (0:2) denkt der damalige Assistent von Edin Terzic dagegen weniger gerne zurück. „Das ist das Einzige an dieser Reise, was nicht so cool war. Weil ich zum zweiten Mal in Wembley mit leeren Händen dastand“, kommentiert Sahin mit Bezug auf das 2013 an gleicher Stätte mit 1:2 verlorene Finale gegen den FC Bayern – damals noch als Profi.
Der gebürtige Lüdenscheider und Taktgeber der Dortmunder Meistermannschaft von 2011 ist nach Dieter „Hoppy“ Kurrat (1974), Timo Konietzka (1984), Bernd Krauss (2000) und Matthias Sammer (2000 bis 2004) der fünfte BVB-Trainer, der zuvor das schwarzgelbe Trikot trug. Nach eigener Einschätzung hat das nicht nur Vorteile: „Das ist eine der ersten Dinge, die ich gelernt habe. Du musst den Spieler Nuri Sahin vor der Tür lassen, wenn du Trainer wirst. Das wird dir nicht viel bringen.“ Dennoch helfe die Erfahrung dabei zu spüren, „wie die Kabine tickt“.
Dieses Gefühl für die Stimmung in der Mannschaft könnte die Suche nach mehr Konstanz erleichtern. Angesichts der vielen „Auf und Abs“ spricht Sahin von „stockendem Verkehr“: „Es ist Fakt. Wir haben eine Ergebniskrise, da kann ich nicht herumreden. Und wir müssen das gemeinsam lösen.“ Offen und selbstkritisch verweist er auf Defizite: „Es gab immer wieder Rückschläge in der Entwicklung. Ich erwarte schon von mir und meiner Mannschaft, dass wir stabiler auftreten. Das müssen wir hinbekommen – so schnell wie möglich.“
Vor allen in den Bundesliga-Auswärtsspielen ist eine Trendwende vonnöten. Nach nur fünf Punkten in bisher sieben Gastspielen sieht Sahin großen Handlungsbedarf: „Ich hoffe, dass wir auch auswärts einiges gewinnen, damit die Jungs auch auswärts mit den Fans feiern können.“
Das große Verletzungspech, das die Borussia in der Hinrunde begleitete und immer wieder zu Umstellungen zwang, taugt laut Sahin nur bedingt als Erklärung für die großen Formschwankungen: „Das ist nur ein Teil der Wahrheit. Es gab viele Faktoren, warum wir manchmal nicht gut gespielt haben und nicht die Leistung gebracht haben, die wir von uns erwarten.“
Als besonders schmerzhaft empfindet Sahin noch immer das Pokal-Aus Ende Oktober in der 2. Runde beim VfL Wolfsburg (0:1 nach Verlängerung): „Wenn ich etwas rückgängig machen könnte und nur einen Wunsch frei hätte, dann wäre es das.“
In bester Erinnerung sind dem Trainer dagegen die starken Auftritte beim 7:1-Kantersieg in der Champions League gegen Celtic Glasgow oder beim 2:1-Erfolg Anfang November gegen die zuvor in der Bundesliga wochenlag ungeschlagenen Leipziger. Zu welchem Powerfußball die Mannschaft an guten Tagen fähig ist, war auch in der Partie gegen den FC Barcelona erkennbar. Der couragierte Auftritt im Duell mit dem spanischen Spitzenteam brachte der Borussia trotz der 2:3-Niederlage viel Lob ein. „Ich habe in diesem Jahr schon gesehen, in welche Richtung es gehen kann, wenn wir konstant werden“, kommentiert Sahin.
Viel Zeit bleibt ihm nicht, um seine Profis auf die herausfordernde Terminhatz in der Rückrunde mit der anschließenden Klub-WM in den USA vorzubereiten. Wegen der kurzen Winterpause, die bereits am 10. Januar mit dem Spiel gegen Titelverteidiger Bayer Leverkusen endet, verzichtete der Coach auf das in den vergangenen Jahren obligatorische Trainingslager in Marbella in Spanien. „Die zweitägige An-und Abreise hätten uns zwei Trainingseinheiten gekostet. Wir wollen uns bestmöglich auf die lange Rückrunde vorbereiten und haben hier Top-Bedingungen“, sagt Sahin.
Was der Coach von sich und seinen Profis im neuen Jahr erwartet, bringt er mit klaren Worten auf den Punkt: „Uns allen muss bewusst sein, bei welch großem Verein wir spielen. Wem das nicht bewusst ist, der hat hier nichts verloren.“