Nachricht
Tobias Raschl: Mein Start bei den Profis
Gestikulierend steht Lucien Favre an der Seitenlinie. Es ist der vierte Tag im Sommertrainingslager in Bad Ragaz. Auf der Sportanlage „Ri Au“ spielt Borussia Dortmund, der deutsche Vizemeister, gegen den FC Zürich. „Hier! Nein! Weiter vorn! Nicht Du, Thomas ... Tobi nach vorn! Da! Ja, da!“. Der Cheftrainer dirigiert seinen Spieler an die richtige Stelle. Ja, da will er ihn sehen, auf der „Zehn“, den Gegner im Aufbau anlaufend, bei eigenem Ballbesitz in präsenter Position.
„Das Feedback wirkt sehr, ich nehme es mir sehr zu Herzen“, spricht Tobias Raschl Wochen später über dieses Spiel in der Schweiz. „Am Anfang musste er mich einweisen in eine neue Rolle oder Formation. Einem Spieler wie mir, der noch nicht so viel kennt, dem muss er helfen und ihn coachen.“ Dankbarkeit schwingt mit in den Worten des Auszubildenden in einer Profimannschaft – und der Respekt vor Lucien Favre, der gerne mit hoch veranlagten und zugleich lernwilligen jungen Fußballern arbeitet. Raschl sagt: „Er hat schon hunderte, wenn nicht tausende junger Spieler gesehen. Da weiß ich, wo ich und wie ich bei ihm stehe und was ich zu verbessern habe.
“Das öffentliche Feedback bekommt der Youngster gar nicht mit. Der kicker schreibt über dieses Spiel: „Favre verordnete dem BVB wieder sein Haus- und Hofsystem (4-2-3-1) mit dem auffälligen Tobias Raschl auf der Zehn.“ Und auch der Kapitän äußert sich sehr positiv. Marco Reus sagt zum Abschluss des Trainingslagers: „Auch die ganz jungen Spieler hinterlassen einen richtig guten Eindruck. Es ist nicht leicht, in so jungen Jahren auf so einem Niveau zu spielen.“
Tobias Raschl hat die ersten, ganz leichten Fußspuren im Profibereich hinterlassen. Im Testspiel gegen den 1. FC Schweinberg schießt er das erste BVB-Tor der Saison, was ihn aber nicht zu euphorischen Worten hinreißt: „Das war kein Test auf Augenhöhe. Trotzdem ein schönes Gefühl.“ Mit Herzklopfen steigt er wenige Tage später in den Flieger, der den BVB-Tross in die Staaten bringt, PR-Tour und Trainingslager in einem. „Es war sehr aufregend“, sagt der Novize: „Mit Jetlag und Zeitumstellung zu trainieren und zwei Spiele zu haben, war nochmal eine ganz andere Beanspruchung. Aber es wurde uns sehr leicht gemacht.“ Überwältigend. Angenehm. Aufregend. Das sind die Attribute, mit denen Tobias Raschl die USA-Tour im Besonderen und die ersten Wochen im Profikader im Allgemeinen beschreibt. Er ist ein besonnener, reflektierter junger Mann, ein angenehmer Gesprächspartner, mit fußballerischem Talent gesegnet, von einer bodenständigen Familie geprägt.
Zurück zu den Wurzeln
Um Tobias Raschl näher kennenzulernen, lohnt es sich, auch dessen Eltern und Geschwister kennenzulernen. Die leben in Düsseldorf-Unterrath, einem von Bauten aus den sechziger Jahren geprägten Stadtteil der Landeshauptstadt. Mietshaus reiht sich an Mietshaus. Das Haus mit der Nummer 41 ist gar nicht so leicht zu finden. Es befindet sich in einem Hinterhof, zweigeschossig, familiär; könnte so auch auf dem Land stehen. Bewusst haben sich die Raschls gegen ein Leben im Grünen entschieden, sondern für eines auf dem Hof des angrenzenden Familienbetriebes. Damit Vater Robert jeden Tag gemeinsam mit Frau und Kindern (Henrik, Tobias und Leonie) die Mahlzeiten einnehmen kann, damit die Kinder kurze Wege haben, wenn sie mal schnell zum Vater wollen.
Hier steht Deutschlands ältestes Rahmenrichtwerk für Nutzfahrzeuge. Um es mit einfachen Worten zu sagen: Hier biegen die Raschls seit 70 Jahren Krummes gerade. „Mit bis zu 1000 Tonnen Druck werden Fahrgestelle jeglicher Art im Kaltrichtverfahren gerichtet. Namhafte Fahrzeughersteller sowie die Bundeswehr und die Deutsche Bahn vertrauen unserer Kompetenz“, steht auf der Homepage zu lesen.
Tobis älterer Bruder Henrik (21) wird möglicherweise in die Fußstapfen seines Vaters Robert (46) treten und den Familienbetrieb in die nächste Generation führen. Henrik absolviert nach dem Abitur eine Ausbildung als KfZ-Mechaniker, und auch Tobias (19) wäre dort gern gesehen. „Der Fußball hat mir einen Rahmenbieger genommen“, knurrt der Vater – und lächelt. Denn wirklich wichtig ist ihm, dass sein Junge gut durchs Leben kommt, gewappnet ist für alle Eventualitäten.
„Wir sind Handwerker. Um im Fußball Geld zu verdienen, steht die Chance bei eins zu einer Million“, hat er Tobias mit auf den Weg gegeben, als vor vier Jahren der Wechsel zu Borussia Dortmund im Familienrat diskutiert wurde. Und als zwölf Monate später der Einzug ins Internat zur Debatte stand, um der täglichen Pendelei zwischen Düsseldorf und Dortmund ein Ende zu setzen, mahnte Mutter Nadine (45): „Du ziehst von zuhause weg, damit Du neben dem Fußball auch Dein Abi schaffst!“
Schule und Fußball: Eine Herausforderung
Die Schule ist anscheinend der einzige Konfliktpunkt zwischen Eltern und Sohn. „Hier war alles super zu Beginn“, erzählt Tobi, „ich habe recht wenig Probleme gehabt, kannte die Jungs, die vom Internat in die Schule gingen. Je höher es ging – U17, U19, Nationalmannschaftslehrgänge – wurde es ziemlich stressig.“Als er nach einwöchigem DFB-Lehrgang und anschließender Reise mit dem BVB zu einem Spiel der UEFA Youth League „wie der Ochs vorm Berg“ vor den Aufgaben sitzt, reift der Gedanke: „Es reicht! Doch meine Eltern wollten unbedingt, dass ich das durchziehe. Mit Nachhilfe und Unterstützung durch den Verein habe ich es auch geschafft.“
Daheim in Düsseldorf glühen in dieser Zeit die Drähte. „Tobi hatte eigentlich komplett abgeschlossen mit der Schule“, erzählt die besorgte Mutter: „Die Internatseltern (Franziska und Marvin Mainoo-Boakye, d. Red.) konnte man jederzeit anrufen, sie waren immer präsent, wenn es am Wochenende hier gekracht hat mit Tobi wegen der Schule.“ Mit Mühe, aber letztlich mit Erfolg schafft der Sohn das Abitur. Der 19-Jährige bringt genügend Talent mit, um im bezahlten Fußball eine erfolgreiche Laufbahn einzuschlagen. Aber vor einer schweren Verletzung, vor dem jähen Ende aller Hoffnungen, ist niemand gefeit. Da ist das Papier mit der Aufschrift „Reifezeugnis“ eine gute Absicherung. Noch erkennt er nicht ganz den Nutzen, aber: „Irgendwofür wird es gut sein.“
Als sich Borussia Mönchengladbach meldet, ist Tobias acht. Das Okay für einen Vereinswechsel weg von der SG Unterrath gibt es, als der Opa sagt, dass er die Fahrerei übernimmt. Denn Mutter Nadine ist es wichtig: „Wir haben drei Kinder. Hier darf keines zu kurz kommen.“ Dennoch diktiert der Fußball seitdem das Wochenende der Raschls. Bis zur U19 gilt: „Sonntag fahren wir zum Tobi, Fußball gucken, dann fahren wir zum Henrik, Fußball gucken. Und Leonie hat Ballett, das ist zum Glück nicht am Wochenende. Da schauen die Jungs dann zu. Alles ist wichtig.“
"Du bist der mit dem Oldtimer?"
In Gladbach spürt der junge Tobias Raschl erstmals die große Fußball-Welt. „Als kleiner Junge die Profis zu sehen, war aufregend“, sagt er. Die Freundschaft zu Max Eberls Sohn überdauert auch die bislang schmerzhafteste Phase in seinem fußballerischen Leben, als es für Tobi nach der U13 nicht mehr weitergeht beim VfL. „Bis dahin hatte er einen Lauf gehabt. Immer“, erinnert sich der Vater, „dann hieß es, er sei technisch gut, aber zu langsam.“
„Für Tobi ist eine kleine Welt zusammengebrochen“, ergänzt Robert Raschl, „und auch Henrik versank in Tränen.“ Der Jüngste machte im Sommer 2013 einen kleinen Schritt zurück, bei der Fortuna in Düsseldorf, und war in seiner Entwicklung dennoch nur kurz aus der Bahn geworfen. Raschl erhielt in der U14 sofort die Kapitänsbinde, und im Frühjahr 2015 bekundete Borussia Dortmund Interesse. „Ich möchte es mal testen, mal probieren. Das ist das nächste Level“, hat Tobias seinerzeit seinem Vater gesagt. „Mach es. Wenn es schief geht, sind wir für dich da.“
Es ging nicht schief. Robert Raschl hatte nach den ersten Gesprächen mit Tobis künftigem U16-Trainer, Christian Flüthmann, sowie Hannes Wolf, der seinerzeit die U17 betreute, „ein richtig gutes Gefühl. Vorher war für mich aber wichtig zu wissen: Wer nimmt meinen Jungen unter die Fittiche?“ Im ersten Jahr beim BVB verbringt der damals 15-Jährige viel Zeit auf der Autobahn oder im Regionalexpress, dann geht’s ins Internat, aktuell wohnt er bei Gasteltern im Kreuzviertel, „damit er nicht in eine Wohnung kommt, die leer ist“, sagt die Mutter. „Ich war nie der Junge mit Heimweh – meine Mutter umso mehr“, meint der Sohn, der die U16, die U17 und auch das zweite Jahr der U19 als Kapitän anführt.
Er merkt, dass er nicht nur mithalten kann in der Junioren-Bundesliga, sondern auch Akzente setzt. Raschls Spiel hat Struktur. „In der U17 denkt man noch nicht an Bundesliga oder Profisein; das sind Träume, die weit, weit entfernt sind. Da hat man seine Liga und ganz andere Probleme. Mit der Schule zum Beispiel.“ Doch irgendwann reift „im Hinterkopf“ langsam der Gedanke, „dass man Profi werden will, am liebsten bei Borussia Dortmund. Aber wir alle wussten, wie schwer es wird. Aus den Jahrgängen vor uns haben es nur Jacob Bruun Larsen und Christian Pulisic geschafft.“ Als die letzte Saison als Jugendspieler auf die Zielgerade einbiegt, unterschreibt er – gemeinsam mit Luca Unbehaun und Patrick Osterhage – seinen ersten Profivertrag. „Du bist der mit dem Oldtimer?“, begrüßt ihn Michael Zorc. Der Oldtimer, das ist Tobis erstes Auto. Mercedes, „Strich-Acht“, millionenfach gebaut zwischen 1968 und 1976. Viel Blech, wenig PS. Eine Idee seines Vaters. „Damit kann er das Fahren lernen.“
Das Fußballspielen muss Tobias Raschl nicht mehr lernen. Jetzt geht es darum, jene paar Prozent an Leistungsbereitschaft herauszukitzeln, die Top-Spieler von Top-Talenten unterscheiden. Das Rüstzeug haben Raschl und Co. in den Nachwuchsleistungszentren der Republik mitbekommen. Die Nachwuchsarbeit bei Borussia Dortmund gilt als vorbildlich. Rund 100 frühere BVB-Talente haben ihren Platz in den höchsten drei deutschen Ligen oder in den ausländischen Eliteklassen.
Der Sprung zu den Großen
„Auch aus unserem Jahrgang sind viele sehr gut weggekommen, haben es in den Kader eines Bundesliga- oder Zweitligavereins geschafft. Man wird in Dortmund richtig gut und professionell ausgebildet. Die Bedingungen sind mit den Trainern, mit den Geräten, mit den Plätzen hervorragend. Hier wird man auf einen guten Weg gebracht, so dass man auch woanders schnell und gut Fuß fassen kann“, erzählt der 19-Jährige, der sich jedoch nicht in der Fremde, sondern bei Borussia Dortmund durchsetzen will: „Ich bin mir bewusst, dass ich bei einem absoluten Topklub bin und eine große Chance habe.“
Tobias Raschl ist als Kapitän der U19-Meistermannschaft von 2019 zum Profikader gestoßen. In beiden Halbfinalspielen gegen Schalke 04 (2:2, 2:0) übernimmt er Verantwortung und tritt zum Elfmeter an. Im Endspiel gegen den VfB Stuttgart ist es der Kapitän, der nach 1:3-Rückstand nicht die Ruhe verliert, sondern klare Kommandos gibt. Borussias U19 gelingt eine sensationelle Wende – 5:3 nach 1:3. Der Sechser spricht von einem „Wahnsinnsgefühl, dass wir das Spiel gedreht haben, mit nichts zu vergleichen in dieser Saison“. Der Schlusspfiff in Großaspach ist gleichzeitig ein Cut. Der Abschied von Jugend und Kindheit. Am Tag danach realisiert Raschl: „Okay, das war‘s jetzt.“ Seinen Urlaub verbringt er mit zwei Freunden aus der Mannschaft in Griechenland. „Man fiebert dem Tag entgegen, an dem alles anfängt. Die ganzen Spieler zu sehen, die Trainer, die Umgebung.“ Kleiner Startvorteil: Der Mittelfeldspieler war schon im Wintertrainingslager Anfang 2019 in Marbella mit dabei.
Mittwoch, 3. Juli 2019. Gespannt betritt Tobias Raschl das „Heiligtum“, die Umkleidekabine der Profis von Borussia Dortmund. „Da muss man sich unterordnen. Du bist der junge Spieler, der hochkommt, und neben dir sitzt Weltmeister Götze und auf der anderen Seite Marcel Schmelzer.“ Der frühere Kapitän, der Integrationsminister, versucht es seinem zwölf Jahre jüngeren Sitznachbarn besonders leicht zu machen. „Es war ein Megagefühl, die gesamte Zeit mitzumachen und zu wissen, du bist jetzt ein Teil des Kaders.“ Anstrengend sei es gewesen, „viel intensiver als im Jugendbereich, viel schneller und robuster. Das war von vornherein klar.“ Zwei Einheiten am Tag schlauchen, den Körper und den Kopf. „Da muss man immer wach und fit sein, um mithalten zu können. Ich war zufrieden mit der Vorbereitung. Der Trainer hat mir oft ein positives Feedback gegeben und ich kam insgesamt gut klar mit den Einheiten.“
Dreimal steht er in der Vorbereitung in der Startelf. Doch je näher die Saison rückt, kristallisiert sich erwartungsgemäß heraus, dass der frühere Kapitän der U19 (noch) nicht zu den ersten 20 im Profibereich zählt. „Ich kann das gut verkraften“, sagt Tobias Raschl. Und die Worte wirken nicht aufgesetzt, sondern kommen mit Überzeugung aus seinem Mund. „Man muss das realistisch sehen und reingehen mit dem Wissen, dass man nicht die erste Geige spielt, wie man es früher aus der Jugend kannte.“
Mit Jacob Bruun Larsen ist er seit langem befreundet. Mit ihm hat Tobias viele Gespräche geführt. „Jacob hat auch nicht in seinem ersten Jahr den Durchbruch geschafft, sondern er hatte Geduld und hat immer weiter trainiert. Jetzt gehört er zum engsten Kader, war eine Zeit lang Stammspieler.“Am Tag vor dem Bundesligastart gegen den FC Augsburg hat Tobias Raschl das schwarzgelbe Trikot an. Aber er läuft nicht mit den Profis in den aus- verkauften Signal Iduna Park ein, er spielt nicht vor 80.000 Zuschauern, sondern vor acht in einem Test der U23 gegen NEC Nijmegen. Raschl macht seine Sache gut, natürlich, und er wirkt auch nicht enttäuscht. U23 ist kein Abstieg, sondern eine willkommene Gelegenheit, zu spielen. Denn der Youngster hat sich für das erste Profijahr auf die Fahnen geschrieben: „Nicht die Lust verlieren. Es hat nichts zu bedeuten. Es ist das erste Jahr, in dem man weiter an seinen Schwächen arbeiten und nie den Kopf hängen lassen soll.“ Reife Worte aus dem Mund eines 19-Jährigen.
In Düsseldorf warten großartige Eltern auf den Besuch ihres Zweitältesten. Vater Robert wird Sohn Tobias Raschl an diesem Abend noch einmal bestärken: „Ein Ausbildungsjahr. Du spielst mit den Besten zusammen, kannst viel abschauen.“ Mutter Nadine wünscht sich für ihren Sohn „Gesundheit, und dass er die Freude am Fußball nicht verliert – und vielleicht mal ein paar Minuten bekommt...“
Boris Rupert