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Der Tag, der alles veränderte
Borussia Dortmund, der Europapokalsieger von 1966, gegen Werder Bremen, den Deutschen Meister von 1988. Unendlich viel Tradition auf der einen Seite, Tradition gepaart mit Erfolg auf der anderen. So lautete die Finalpaarung um den DFB-Vereinspokal am 24. Juni 1989. Dortmund war nicht nur sportlich Außenseiter, sondern auch in der Wahrnehmung der Berliner Bevölkerung nicht mehr der angesagte Klub. Um die neutralen Stadionbesucher auf seine Seite zu ziehen, ging der BVB in die Charme-Offensive.
Angeführt von Schatzmeister Werner Wirsing und Fritz Lünschermann, der seinerzeit Medienarbeit und Marketing in einer Person vereinte, machte sich eine Woche vor dem Finaltag eine Delegation mit einer knappen Handvoll Mitarbeitern und Freunden sowie früheren Meisterspielern auf den Weg nach Berlin. Jeden Tag tauchte der Bus der Dortmunder Union-Brauerei (deren erster Braumeister übrigens ein gewisser Herr Fritz Brinkhoff war) an markanten Punkten im Westteil der damals noch geteilten Stadt auf. Anstecknadeln, Aufkleber und Fähnchen wurden verteilt, ebenso die Zeitungsredaktionen mit einem „Gruß aus Dortmund“ in Form eines Bier-Gebindes bedacht.
Vor dem Mannschaftshotel von Werder Bremen stand am Vortag eine Jugendmannschaft von Hertha Zehlendorf Spalier – selbstredend in schwarzgelben Jerseys. Werder-Manager Willi Lemke war darüber „not amused“, er schickte seine Spieler durch einen Seiteneingang ins Foyer und kritisierte verärgert die „Materialschlacht, die die Dortmunder betreiben“.
Es passte natürlich hervorragend, dass Bananen gelb sind und es in jener Zeit eine mehr oder weniger offizielle Kooperation mit „Chiquita“ gab. Für den Freibadbesuch waren aufblasbare Riesenbananen kreiert worden, an denen auch die Dortmunder Fanszene schnell Gefallen gefunden hatte. Am Finaltag und in den Tagen zuvor wurden tausende dieser Bananen verteilt. Die BVB-Delegation hatte sich hierzu eiligst noch einen Luftkompressor besorgt.
Während Berlin also ganz in Gelb erstrahlt, hat Horst Köppel ganz andere Sorgen. In Thomas Helmer, Murdo MacLeod und Norbert Dickel sind drei wichtige Spieler nicht fit, vor allem Dickel nicht sechseinhalb Wochen nach einer schweren Knie-OP. Erst am Tag vor dem großen Finale nimmt der Stürmer erstmals wieder am Training teil. Sein Ziel ist es, irgendwie noch ins Aufgebot zu rutschen...
Norbert Dickel: So oft kommt man als Fußballer nicht in ein Endspiel. Ich fühlte mich ganz gut, auch wenn die Schüsse mit der Innenseite fürchterlich weh taten. Das habe ich natürlich niemandem verraten. Ich konnte nicht verlangen, dass ich von Anfang an spiele, auch wenn ich innerlich darauf gehofft hatte. Mit der Nominierung für den Kader hatte ich mein Zwischenziel wenigstens erreicht. Als wir in Berlin eintrafen, sah es zunächst auch danach aus, dass wir mit Bernd Storck als zusätzlichem Verteidiger auflaufen würden.
Horst Köppel hat sich eine vorsichtige Taktik zurechtgelegt. Gegen die favorisierten Bremer mit Reck, Schaaf, Bratseth, Votava, Eilts und Riedle gilt es, zunächst sicher zu stehen.
Horst Köppel: Ich habe dazu tendiert, den Nobby nicht anfangen zu lassen. Wenn du mit drei angeschlagenen Spielern anfängst, ist es ein gewisses Risiko. Aber wir haben es dann doch gemacht – und wie wir im Nachhinein wissen, alles richtig gemacht.
Es ist Gerd Niebaum, der den Trainer überzeugt, ihm zumindest das Gefühl gibt, dass es richtig ist, ins volle Risiko zu gehen mit Helmer, mit MacLeod und eben auch mit Dickel, obwohl damals nur zwei Wechsel erlaubt sind. Am Vorabend, nach dem Essen, sitzen die beiden zusammen. „Pass auf Gerd, wir fangen so und so an“, sagt der Trainer, doch Niebaum ist davon nicht überzeugt...
Köppel: Gerd war sicher nicht der Fußballfachmann, aber er war unser Präsident, ich kam blendend mit ihm aus, und er hatte, das muss man sagen, meist den richtigen Riecher. MacLeod und Helmer waren ganz wichtige Stützen unserer Defensive. Murdo war ein richtiger Schotte, der alles abgeräumt hat. Und Thomas war in einer blendenden Form. Bei Nobby stand die Chance, dass er durchspielen kann, höchstens bei 50:50 – allerhöchstens. Bei den anderen vielleicht 70:30. Doch Niebaum sagte: Lass ihn spielen. Seine Überzeugung hat mich beeindruckt. So habe ich es dann gemacht. Und es hat geklappt! Es war glücklich für den Nobby. Es war glücklich für mich und noch glücklicher für die Mannschaft und für den Verein.
Am Nachmittag geht es mit dem Bus ins Olympiastadion. Berlin präsentiert sich in Schwarz und Gelb.
Dickel: Wir sahen nur unsere Fans. 40.000 waren im Stadion. Überall Schwarzgelb. Das hat mich emotional sehr ergriffen. Ich hatte mit den Tränen zu kämpfen. Was hatten die Fans für Strapazen auf sich genommen, um unser Spiel zu sehen, um uns zu unterstützen?
Das Spiel beginnt, wie es die Experten erwartet und die schwarzgelben Anhänger befürchtet hatten: Werder Bremen geht nach einer Viertelstunde durch Kalle Riedle mit 1:0 in Führung. Doch Norbert Dickel gelingt nur sechs Minuten später der frühe, wichtige Ausgleich.
Dickel: Wir waren Außenseiter. Aber wir wollten das Ding gewinnen. Egal wie. Riedle macht so ein Tor wie eine Woche zuvor van Basten im Länderspiel Holland gegen Deutschland. „So’n Mist“, haben wir gedacht. Aber aufgeben wollte keiner. Plötzlich geht Frank Mill auf der linken Seite auf und davon und passt nach innen. Rune Bratseth bleibt irgendwie hängen und kommt nicht mehr an den Ball ran. Normalerweise wäre das kein Problem für ihn gewesen. Und plötzlich stehe ich allein vor Oliver Reck und mach ihn rein – 1:1. Das war so etwas wie eine Initialzündung. In dem Moment haben wir gemerkt: Die sind doch verletzbar. Von da an war das Spiel offen. Wir haben uns von Minute zu Minute gesteigert.
Karl-Heinz Riedle: Und wir haben einen schwachen Tag erwischt. Ich kann mich kaum noch an das Spiel erinnern, denn an Niederlage denke ich nur ungern zurück. Aber ich weiß: Der Sieg für Dortmund war verdient. Sie haben unsere Fehler bestraft.
Köppel: Mir war wichtig, dass wir schnell den Ausgleich schießen. Wenn wir länger 0:1 zurückgelegen hätten, hätten wir offensiver spielen müssen mit dem Risiko, ein weiteres Tor zu kassieren. Wenn wir 0:2 hinten gewesen, wäre das Spiel entschieden gewesen.
Es folgen zwei Schlüsselszenen: Zunächst verhindert Frank Mill gegen Kalle Riedle das 1:2, drei Minuten später köpft er das 2:1 für Borussia.
Frank Mill: Da kann Bremen 2:1 in Führung gehen, und dann hätten wir irgendwann auf machen müssen, und die hätten kontern können. In diesem Moment hätte es genau in die andere Richtung gehen können. Und direkt danach kommt die Szene, die zum 2:1 führt: Oli Reck konnte dem Ball nur noch hinterher schauen.
Dickel: Die Vorzeichen hatten sich komplett geändert. Jetzt musste Bremen kommen. Und das bei dieser Hitze. Wir konnten uns die Kräfte besser einteilen, spielten auf Konter, setzten Nadelstiche.
15 Minuten dauert diese Phase, und die 76.500 im Olympiastadion, von denen fast alle, längst auch die „neutralen“ Berliner, mit dem Außenseiter aus dem Ruhrgebiet fiebern, die Millionen an den Fernsehschirmen fragen sich: Wohin schlägt das Pendel aus? Dreht Werder das Spiel? Oder erzielt der BVB ein drittes, wohl vorentscheidendes Tor? Mill ist nach einem Konter frei vor Bremens Torwart Reck, doch der pariert stark, mit dem Fuß. Doch Mill flankt den Abpraller in den Lauf von Dickel...
Mill: In dem Moment, wo der Ball zurückkommt, siehst du, dass da hinten noch ein Gelber ist. Und dann trifft er ihn natürlich gut, von 100 Versuchen genau einmal so... Es war ein tolles Tor.
Und es war die Entscheidung. 159 Sekunden später schießt Michael Lusch das 4:1. Norbert Dickel ist seit diesem 24. Juni 1989 und für immer der „Held von Berlin“. Der heimliche Matchwinner aber heißt Frank Mill: ein Tor erzielt, zwei vorbereitet, einmal auf der Linie gerettet. „Ich bin froh, dass das nach 30 Jahren endlich mal einer erwähnt“, sagt er lachend. Die Rettungstat in der 54. Minute beeinflusst die Vereinshistorie nachhaltig.
Mill: Fällt das Tor für Bremen, kann Werder auf Konter spielen. Nicht unwichtig an diesem heißen Nachmittag. Und wir hatten nicht so viele routinierte Spieler wie Bremen.
Jetzt wird es ganz hypothetisch. Hätte, hätte, Fahrradkette. Hätte Kalle Riedle sein zweites Tor geschossen und Werder das 2:1 ins Ziel gebracht, hätte es acht Jahre später womöglich kein Finale gegen Juventus Turin und keine zwei Riedle-Tore zum größten Sieg in Borussia Dortmunds Vereinsgeschichte gegeben...
Riedle: Der Ursprung war 89. Das stimme ich voll zu. Wenn das nicht gewesen wäre, wären andere Sachen vielleicht gar nicht entstanden.
Ein Jahr später werden Mill und Riedle mit Deutschland in Italien Weltmeister. 1993/94 spielen sie gemeinsam beim BVB. Doch noch vor den Meisterschaften 1995 und 1996 sowie dem Champions-League-Sieg 1997 verlässt Mill den Klub. So bleibt der Pokalsieg ‘89 sein einziger nationaler Titel – trotz 151 Toren in 415 Pflichtspielen für Gladbach und Dortmund: „Zweimal habe ich die Meisterschaft aufgrund der Tordifferenz verpasst: 1984 mit Gladbach, 1992 mit Dortmund.“
Doch zurück zum 24. Juni 1989. Es wird eine lange Nacht, der Pokal immer wieder mit Sekt gefüllt. Beim anschließenden Bankett reicht Herbert Sandmann, Verteidiger der 56er- und 57er-Meistermannschaft, seinen BVB-Ehrenring weiter an Michael Zorc mit den Worten: „Nimm Du ihn, bei Dir ist er in besten Händen. Ihr seid Borussias Zukunft.“ Es ist der schwarzgelbe Ritterschlag für den Kapitän der Mannschaft von 89 – einer Elf, die die Tür zu einer sportlich erfolgreichen Zukunft öffnet.
Die Feier hinterlässt mehr Spuren als der Kampf auf dem Rasen. Und der Rückflug am nächsten Morgen nach Dortmund ist nicht wirklich angenehm.
Dickel: Damals durfte man über das Gebiet der DDR nur in 1.000 Meter Höhe fliegen. Entsprechend wackelig war es in der kleinen Maschine. Aufgrund des nicht unerheblichen Alkoholkonsums wurde dem einen oder anderen schlecht – und deshalb auch dem Sitznachbarn... Es war grausam. Bis kurz vor Dortmund hatten wir uns aber alle wieder beruhigt. Der Pilot informierte uns, dass die ganze Stadt auf den Beinen sei, dass sich rund um den Flughafen kein Rad mehr drehen würde. Die letzte Viertelstunde kam mir vor wie drei Tage. Ich wollte sehen, was da los ist in Dortmund. Und beim Anflug, als man diese Menschenmassen sehen konnte, dachte ich: „Was ist denn da los?“ Mit dem Wagen wollten wir zum Borsigplatz. Kalkuliert waren zwei Stunden, gebraucht haben wir viereinhalb. Diese Fahrt wird keiner von uns je vergessen. Ganz Dortmund spielte verrückt.
Zwischen 250.000 und 400.000 Menschen, so die unterschiedlichen Quellenangaben, empfangen den Deutschen Pokalsieger in seiner Heimatstadt. Als sich für die Mannschaft das Flughafentor öffnet, ist die Wickeder Chaussee voll mit Menschen. Es gibt kein Durchkommen. Der Triumphzug bis zum Rathaus dauert fünf Stunden. Der Lastwagen, der die Helden von Berlin an Bord hat, führt kein WC mit. Unter dem Gejohle der am Rande Stehenden müssen die Spieler ins Gebüsch, um sich von den Getränkelasten zu befreien.
Nicht nur Dortmund spielt verrückt, sondern auch das rechte Knie von Norbert Dickel. Es soll ich nie wieder so ganz beruhigen. Und es schmerzt den Helden von Berlin noch heute, 30 Jahre nach dem Endspiel.
Dickel: Jeden Tag habe ich gehofft: „Morgen geht es besser.“ Bis zum 15. Dezember 1989 habe ich nur noch sechs Spiele machen können, weil das Knie immer wieder dick wurde, weil ich mit der Innenseite des Fußes nicht mehr schießen oder spielen konnte. Eine Langzeittherapie über neun Monate war die letzte Hoffnung. Jeden Tag bin ich nach Düsseldorf und sonst wohin gefahren. Irgendwann, im August oder September 1990, kam die Erkenntnis: „Wir kriegen das Knie nicht mehr hin.“
Es bleibt jedoch eine Mär, dass er für die Teilnahme am Endspiel seine Karriere geopfert habe. Dieses eine Spiel gestattete ihm das Gelenk noch. 77 Minuten für die Ewigkeit. Nicht mehr, nicht weniger.
Dickel: Ich glaube nicht, dass dieses Spiel irgendeinen großen Einfluss hatte. Vielleicht wären es drei Monate mehr geworden, die ich hätte spielen können. Ich habe an diesem Tag in Berlin alles richtig gemacht. Wenn ich nicht dabei gewesen wäre, würde ich heute nicht in der Geschäftsstelle von Borussia Dortmund arbeiten. Das Knie ist kaputt, aber mein Leben hat einen vernünftigen Weg genommen.
Nicht nur der Weg eines Einzelnen verändert sich am 24. Juni 1989, sondern der eines gesamten Vereins mit seinen damals Hunderttausenden, heute Millionen Anhängern. Die Aufbruchstimmung, die Gerd Niebaum kanalisiert und ab Dezember 1989 gemeinsam mit Michael Meier zu vier großen Titeln führt, leitet die zweite goldene Epoche in der Vereinsgeschichte ein. Ohne den Pokalsieg von 1989 wären die Vizemeisterschaft 1992 und das UEFA-Pokalfinale 1993 schwer vorstellbar – und damit wohl auch die Deutschen Meisterschaften von 1995 und 1996 sowie der Gewinn von UEFA Champions League und Weltpokal 1997.
Alles hat seinen Anfang. Dieser Neuanfang wird begründet durch die Helden von Berlin: Wolfgang de Beer, Günter Kutowski, Thomas Helmer, Günter Breitzke, Michael Zorc, Andreas Möller, Murdo MacLeod, Thomas Kroth, Norbert Dickel, Michael Rummenigge, Frank Mill, Bernd Storck, Michael Lusch und ihrem Trainer Horst Köppel.
„Die Euphorie war wieder da“, erinnert sich der Coach, „es ging dann aufwärts, leider nicht mehr allzu lange mit mir. Ich war da schon ein bisschen verschlissen. Deshalb war es n Ordnung, dass mein Vertrag nicht verlängert wurde. Ich war damals nicht sauer. Ich habe bis heute nur Freunde in und gute Erinnerungen an Dortmund.“ Ottmar Hitzfeld übernimmt ab Sommer 1991. Und führt Borussia endgültig in eine goldene Ära.
Autor: Boris Rupert / Fotos: imago images